von Daniel Böhm, Mai 2021
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Seine Beweggründe, dieses Buch überhaupt zu schreiben, sind genauso erwähnenswert wie die herausragende Umsetzung. Jan Reetze, 1956 in Hamburg geboren, ist studierter Politikwissenschaftler und seit Jahrzehnten publizistisch in der Medien- und Musikwirtschaft tätig. Seit 2008 lebt er in den USA und hat nun einen über 500 Seiten starken Schmöker geschrieben, der die Geschichte moderner Musik in und aus (West-)Deutschland mitsamt ihrer Szene anschaulich darstellt. Und: Sie mitsamt der Eigenheiten auch erklärt. Dass er dies auf Englisch tut, macht Times & Sounds — Germany’s Journey from Jazz and Pop to Krautrock and Beyond noch spannender und erweitert den Adressatenkreis seiner Ausführungen beträchtlich. Wie viele grässliche Klischees und Vorurteile das Verständnis und die Akzeptanz der vielseitigen Progressiv-Musik der frühen Siebziger gerade im Ausland erschwerten, führt Reetze bereits auf den ersten Seiten seiner Einführung vor. Als lexikalischer Wegweiser durch das Genredickicht des „Krautrock“ mit seinen wichtigen und obskuren Plattenveröffentlichungen funktioniert das Buch nur bedingt, wenngleich nicht wenige Erwähnung finden. Dafür zeichnet es ein umso unterhaltender geschriebenes Panorama der politischen, soziokulturellen, geografischen und (medien-)ökonomischen Rahmenbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die auf vielfältige Weise Einfluss nahmen auf den musikalischen Puls der Bundesrepublik Deutschland, seine Strömungen, Macher und wichtigen Katalysatoren. Auf dem Weg vom Jazz- und Swing-Orchester-Sound über Schlager, Rock’n’Roll und Beat, Folk-, Protest- und politischen Liedermacherkunst, Heavy-, Jazz- und Progressive-Rock bis hin zu den avantgardistischen Elektronik- Pionieren und der modernen Klassik von Stockhausen oder dem Klang der Neuen Deutschen Welle wird nichts vergessen. Reetze stellt überdies auch Produzenten und Studios vor, wodurch seine Untersuchung eine immense Informationsfülle und -tiefe erreicht. Der mitnehmende, professionelle Schreibstil, die Struktur, die Informationstiefe und nicht zuletzt die tolle Haptik machen sein Werk noch viel mehr zu einem Lesebuch als Der Klang der Revolte: Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Untergrund (Christoph Wagner, 2013), das sich dem Thema Krautrock in ähnlicher, aber leichteren Weise nähert und sich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt bislang als Standardwerk behauptet. Beide sind essenziell.