Review in Jazz ‘n’ more 03/2022

von Christof Thurnherr, 4. Mai 2022
Klicke hier für die Originalquelle

Jan Reetze weiss, wovon er schreibt. Geboren 1956, hat er die hier zusammengefassten Jahrzehnte selbst miterlebt: zuerst als junger Mensch in der kulturellen  dnis Westdeutschlands nach dem Ende des letzten Kriegs, dann als Mitarbeiter in einem Tonstudio, später als Musikwissenschaftler und schliesslich als Geschäftsführer eines Musikverlags – aber immer und vor allem als Fan.

Heute lebt Reetze in den Vereinigten Staaten und es ist diese geographische Distanz zu seiner Heimat und zum Thema, die seine Beschreibungen und Analysen in ein überzeugendes, sachliches Licht rücken. Trotz seines akademischen Hintergrunds interessiert sich Reetze in erster Linie für die Innenperspektive eines persönlich “Betroffenen”. Das Buch beginnt mit einer sehr lesenswerten Beschreibung des Lebensgefühls in Westdeutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren. Es war dies die Zeit, in der die Ideen entstanden, die später dazu beitrugen, dass Westdeutschland zum idealen Nährboden von – heimischen und fremden (man denke bloss an die Bedeutung des Star Club für die Beatles) – Musiken wurde, deren Wirkung Entstehungsort und -zeit überdauerten und viele Stile und Richtungen noch heute prägen. Reetze erliegt dabei nicht der Versuchung, den soziokulturellen Hintergrund und die dazu ertönenden Klänge kausal zu verknüpfen; vielmehr stellt er beides als Phänomene nebeneinander, exakt so weit voneinander entfernt, dass es zwischen ihnen statisch zu knistern beginnt. Die nötige, umfangreiche Beschreibung der Begleitumstände hat zur Folge, dass ganze 249 Seiten verstreichen, bis Reetze tatsächlich auf den “Sound der Jahre” näher eingeht. Dann aber taucht er tief in dieses Thema und widmet sich ausführlich den Künstlern, aber auch der Produktionsseite mit Verlegern und Mäzenen, Tonmeistern und Technikern und schliesslich dem Markt. In den teilweise etwas atemlos wirkenden Aufzählungen findet jeder, wonach er sucht, und – weil Reetze auf eine offensichtliche Systematik verzichtet – auch, was bisher unter dem eigenen Radar geblieben war. Natürlich geht er dabei auch auf den Jazz ein und auch wenn dieser nicht seine eigentliche Leidenschaft ist, hat er doch auch hier einiges zu berichten, beispielsweise über die vielen kleinen unabhängigen Studios und Labels, die das Feld für die heutigen Qualitätsgaranten MPS und ECM bereiteten. Die Musik Westdeutschlands war und ist nicht nur eine Revolte. Stilistisch ging aus ihr mehr hervor als die wenigen bekannten Protagonisten, mit deren Gesicht das Genre Krautrock gerne geschmückt wird. Und ihre Wirkung durchdringt das heutige internationale Musikgeschehen weit tiefer, als dies Westdeutschland gemeinhin zugestanden wird. Reetze leistet einen längst überfälligen Beitrag dazu, diese und viele weitere Irrtümer zu berichtigen.