von Thorsten Soltau, 25. Juni 2022
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Die Bilanz am Ende des Nationalsozialismus fällt in Deutschland verheerend aus: Ausgebombte Städte, Mangel und Hunger allerorten, tiefe Wunden in den Seelen der Überlebenden. Der Wiederaufbau beginnt, und gleichzeitig entsteht der kollektive Wunsch nach Ablenkung und der kurzzeitigen Flucht in Gefilde, „wo die Welt noch in Ordnung ist“. Der Schlager mit seinen mitunter süßlichen und mit Pathos aufgeladenen Texten trifft da zu jener Zeit mitten ins Herz einer Gesellschaft, die sich nicht nur wieder selbst aufbauen, sondern am Ende eines der schwärzesten Kapitel der Geschichte auch wiederfinden muss.
Die musikgeschichtliche Reise in „Der Sound der Jahre“ von Jan Reetze beginnt mit der Stunde Null – und wer das Kapitel über den deutschen Schlager im Nachkriegsdeutschland gelesen hat, dürfte über das Genre von nun an anders denken. Die stilistische Verzuckerung der Musik ist ein Produkt ihrer Zeit – eine Zeit, in der die Deutschen sich noch gut der aggressiven Rhetorik der Nazis im Rundfunk bewusst gewesen sind.
Fünf Musikjahrzehnte deckt „Der Sound der Jahre“ ab, Autor Jan Reetze lenkt den Blick dabei wesentlich auf die Entstehung deutscher Rock- und Krautrockmusik. Dass diese mit dem Schlager durchaus Wurzeln teilt, wird ebenso differenziert und detailliert aufgelöst wie die politische und gesellschaftliche Situation des jeweiligen Jahrzehnts. Jan Reetze zeigt sich an vielen Stellen als feinsinniger und -fühliger Beobachter der Zeiten, und tritt dabei nicht zuletzt auch stellenweise aus der Autorenrolle heraus, indem er mitunter äußerst persönliche Bezüge zur eigenen Familie und Vita als musikinteressierter Heranwachsender einstreut.
Kostbar sind inbesonders die O-Töne von Produzenten, Musikern und Musikverlagsmitarbeitern, die die jeweiligen Kapitel flankieren und mit weiterem Leben füllen. Dies erlaubt tiefgehende Einblicke in die wirtschaftliche Situation der damals angehenden Rockmusikgeneration, die sich oftmals mit mehreren Nebenjobs über Wasser halten musste. Viel zu erfahren gibt es nicht zuletzt über die Lebenswirklichkeit von Profimusikern, deren Tour- und Studioalltag nicht selten von Organisation, Zeitdruck, Abstimmung zwischen den Kollegen und fehlender Zeit für Beziehungen geprägt ist. Jan Reetze schafft außerdem Querverbindungen zwischen den Akteuren, die aufzeigen, wie stark die Szene weit vor dem Internet miteinander vernetzt ist. Grafisch wird dies verdeutlicht mit Karten, die zeigen, welcher Produzent für den Klang der jeweiligen Bands und Musiker verantwortlich zeichnete.
Wenn auch die Manierismen und Stilistik des Krautrocks es oftmals nahelegen: Nicht immer geht es um das bloße Ausleben avantgardesker Ideen – öfters stehen Aufbruch, Umbruch und das Verlassen ausgetretener Pfade sowie Entwickeln einer eigenen Identität im Zentrum. Ein großes Stück weit ist Krautrock Rebellion, in einer Zeit, in der Radiomoderatoren noch mit enggeschnürtem Krawattenknoten vor dem Mikrofon im Rundfunkhaus sitzen. Viele der Musiker in dem Buch (Klaus Doldinger, Peter Brötzmann, Amon Düül, Can, Karlheinz Stockhausen, Kraftwerk etc.) haben bestehende Grenzen überwunden und Innovation geschaffen, nicht selten aufgrund des Erfindergeistes des jeweiligen Produzenten (Dieter Dierks, Rolf-Ulrich Kaiser und Conny Plank seien an dieser Stelle genannt).
Nicht nur Historie, auch eher unbekannte Geschichten der Zeit finden Platz. Besonders hervorzuheben ist die schon fast filmreife Geschichte des Produzenten Rolf-Ulrich Kaiser, der zunächst mit Fleiß und Gespür in den Siebzigern die unter Kennern legendären „Ohr“ und „Pilz“ genannten Plattenlabel gründete und damit maßgeblich dem Krautrock und der kosmischen Musik Vorschub leistete. Nach wenigen Jahren sollte die Pionierarbeit allerdings ein tragisches Ende nehmen: Rolf-Ulrich Kaiser und seine Lebensgefährtin Gille Lettmann erhoben das LSD zur eigenen Religion und steuerten dadurch Verlage und am Ende sich selbst in die existenzielle Havarie. Seit 1975 sind beide aus der Öffentlichkeit verschwunden. Man muss es gelesen haben, um es zu glauben.
Fazit: Trotz seines Umfangs ist „Der Sound der Jahre“ ein fesselndes und vor allem zeithistorisch brillant kompiliertes Nachschlagewerk. Wer darin liest, sollte den Streamingdienst seines Vertrauens parallel auf dem Smartphone oder Rechner laufen lassen. Die von Jan Reetze gelisteten Titel und Werke machen nämlich Lust auf eine Hör-Reise in die vielfältigen Gefilden der deutschen Musiklandschaft. Jan Reetzes Buch ist ein kaleidoskopisch aufgebautes Werk, welches viel Lokalkolorit und eine spannende Erzählweise bietet, Ernsthaftigkeit und wissenschaftliche Genauigkeit dabei jedoch einbezieht: Essentiell für Jeden, der sich auch nur annähernd für deutsche Musik interessiert. Die liebevolle Gestaltung des Buches mit unveröffentlichten Fotos und umfangreichem Register ist mustergültig und eine bibliophile Freude.