Review in Jazz ‘n’ more 02/2021

von Pirmin Bossard, 3. März 2021
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Jan Reetze hat ein umfassendes Buch über die deutsche Musikszene geschrieben. Times & Sounds ist auf über 500 Seiten ein spannendes Stück Kultur- und Zeitgeschichte von den späten 1940er- bis in die frühen 1990er-Jahre.

Der Autor war in der Kernzeit dieses Buches von 1960 bis 1980 mittendrin. Er hat die frühen Krautrock-Bands live gesehen, die Platten gekauft, die Szene verfolgt und später auch selber Musik gemacht. Dieses persönliche Interesse und die emotionale Nähe zum Thema wird in diesem Buch nicht unterschlagen, und das ist ein Gewinn. Reetze schreibt anschaulich, er bringt sich ein und erzählt immer mal wieder, wie er damals selber gelebt hat.

Gleichzeitig ist Reetze nicht einfach der Fan, der alles verklärt: Als kritischer und fragender Geist blickt er mit einer guten Distanz auf ein Kapitel populäre Musik-Zeitgeschichte zurück, das sein Leben mitgeprägt hat. Es ist ein Buch, das mit einer Fülle von recherchiertem Material aufwartet und es mit seinen Protagonisten und vielen Details quer durch die Zeiten und Szenen verbindet. Die musikalische Zeitreise folgt den politisch-gesellschaftlichen Auswirkungen von der Stunde null nach dem Zweiten Weltkrieg über das beginnende Wirtschaftswunder und die Umbruchszeit der 1960er-Jahre bis in die 1980er-Jahre.

Unterlegt vom Sound des frühen Jazz, des Rock’n’Rolls und des Fernweh-Schlagers beschreibt Reetze das gesellschaftliche Klima der 1950er-Jahre und wie sich Deutschland in der Nachkriegszeit aufrappelte. Wir erleben, wie der Star Club im Kiez-Milieu von Hamburg die Beat-Bands nach Deutschland brachte, wie das mit dem Musikbusiness, der medialen Vermittlung, den Infrastrukturen, den Labels und den Geschäftspraktiken funktionierte und wie das politische Klima wirkte: von linken Protestsängern über vernebeltes Rebellieren bis zur nackten Gewalt der RAF.

Kernstücke sind die Kapitel über die Anfänge und Höhepunkte des Krautrocks und seinen prägenden Bands Amon Düül II, Can, Guru Guru, Kraftwerk, Cluster oder Tangerine Dream. Produzenten wie Conny Plank oder Dieter Dirks werden gewürdigt, die dem experimentierfreudigen Krautrock seinen spezifischen Klang gaben. Die Entwicklung im Jazzbereich ist ebenso durchlässig eingebaut wie das Kapitel über Karlheinz Stockhausen, der mit seinen Kompositionen neue Klangvorstellungen und räumliche Sound-Ereignisse schuf. Spezielle Kapitel behandeln die Münchner Moog-Pioniere Schroeder (sic!), Fricke und Moroder, die Berlin Schule (Tangerine Dream, Ash Ra Tempel, Klaus Schulze), die Düsseldorf Schule (Kraftwerk, NEU!, La Düsseldorf), die Hamburger Rock- und Jazz-Szene oder Agitprop-Bands wie Floh De Cologne und Ton Steine Scherben.

Das Buch wird durchzogen von vielen kleinen Geschichten und oft überraschenden Bezügen, in denen bekannte Musiker oder schillernde Figuren uns hinter die Kulissen des Musikbusiness blicken lassen. Wir lernen die Politik der Labels kennen oder den Einfluss der technischen Entwicklungen (Synthesizer). Ein Höhepunkt ist das Kapitel über den Musikproduzenten Rolf-Ulrich Kaiser und Gille Lettmann (Sternenmädchen), die nach ihren LSD-geschwängerten Visionen und tollen Veröffentlichungen auf den Labels Pilz, Ohr und Kosmische Kuriere ab 1975 für immer von der Bildfläche verschwanden. Keiner hat ihre unglaubliche Geschichte so umfassend aufgearbeitet wie Reetze, und wir möchten am liebsten ein ganzes Buch darüber lesen.

Jan Reetze, der in Hamburg Soziologie, Politikwissenschaft und Systematische Musikwissenschaft studierte und mehrere Bücher veröffentlichte, lebt seit 2008 mit seiner Frau in Pittsburgh, Pennsylvania, USA. ”Times & Sounds” ist das erste Buch, das er auf Englisch geschrieben hat. Dahinter stand nicht zuletzt die Absicht, im Speziellen die Krautrock-Fans ausserhalb von Deutschland anzusprechen. Das ist ihm als Kenner der Materie mit seiner nüchternen Empathie und seiner verständlichen Schreibe hervorragend gelungen.