von Jochen Oberlack, 29. April 2022
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Jan Reetze ist Wahl-Amerikaner und hat sein Buch vermutlich deshalb zunächst in englischer Sprache herausgebracht. Die deutsche Version soll sich inhaltlich stark vom Original unterscheiden. In dieser Ausgabe sind Themen inkludiert, welche für den Durchschnitts-Ami von geringer Bedeutung scheinen. Vice Versa stehen in der englischen Version Weisheiten, welche für den deutschen Markt nicht relevant sind. So jedenfalls begründet das der Autor, und er muss es wissen.
Schon die inneren Buchdeckel sind unterschiedlich. In der einen Version findet man die großartige „Krautrock-Map“, in der anderen stattdessen ein tolles Schaubild bezüglich der Aktivitäten von Konrad Plank, Dieter Dierks und Rolf-Ulrich Kaiser. Reetze hält sich nicht mit langen Vorreden auf und kommt die Musik betreffend schnell auf den Punkt. Von den Urvätern bis in die Moderne reicht der Blick, stets ist das gesagte mit Position und Meinung eingefärbt. Das ist erfrischend. Die Sprache klingt hanseatisch-nüchtern, Fakten und Anekdoten werden allerdings mit trockenem Humor garniert. Schon allein dafür lohnt sich die Anschaffung dieses Werkes, denn für gewöhnlich lesen sich Bücher über deutsche Rockmusik wie die Beipackzettel von Kopfschmerztabletten.
Von einem ehemaligen (?) Rolling Stone Redakteur mit drei abgeschlossenen Studiengängen darf die geneigte Leserschaft das allerdings auch erwarten. Der Charme des Buches liegt im offenen Blickwinkel. Reetze wertet die Aktivitäten der deutschen Szene kenntnisreich in Korrelation zur internationalen Musik ein. Das ist nicht immer bequem, und so mancher Krautrock-Nerd wird seine teuer eingekauften Preziosen vermutlich in anderem Licht sehen lernen. Kaputter Hamster sucht man in Der Sound Der Jahre jedenfalls vergebens. Selbstredend ist auch der Autor nicht gefeit vor subjektiven Einschätzungen. Scheinbar war oder ist Reetze ein emeritierter Tastenmann, denn er hat ein überaus nobles Verhältnis zur Fraktion der Knöpfchendreher. Vielleicht kommen Cluster mit ihrem manchmal orientierungslosen Geplucker deshalb so gut weg. Gitarrenbands haben es bei Meister Reetze nicht so leicht, vor allem wenn sie aus dem Umfeld des Heavy Metal kommen. Den hat es aus Sicht des Autors offenkundig nie gegeben. Dabei kannten selbst die Cartoon-Stars Beavis & Butt-Head das Gold-Album Balls To The Wall von Accept. Den Scorpions, immerhin Deutschlands Rock-Export Nummer 1, wird nicht einmal ein einziger vollständiger Satz gewidmet. Im Gegenzug erfährt man dafür viel Neues über Juliane Werding und ihre Gothic-Phase. Gerade diese Unwuchten machen besonderen Spaß, denn die Wahrnehmung von Musik ist immer subjektiv und die Erinnerung eine Hure.
Wichtig ist einzig und allein der Umstand, dass dieser Parforceritt durch unsere Musikkultur einen von der ersten Seite an nicht loslässt. Oder besser von Seite 8, denn das Roedelius-Vorwort ist völlig verzichtbar. Besonders die Kapitel zu den siebziger Jahren sind furios und man mag das Buch kaum weglegen, so zieht einen der zwingende Erzählstil Reetzes hinein in diese Story seiner formativen Jahre. Das liest sich manchmal fast autobiographisch, und genau das ist der Charme jener Passagen. Fachlich-nüchtern mag ergänzt werden, dass das Kapitel über Rolf-Ulrich Kaiser zwar gut ist, allerdings abgepinnt. Zur Ehrenrettung sei konstatiert, dass Reetze nur bei sich selbst klaut. Die gleichen Texte hat er an anderer Stelle längst veröffentlicht. Eine lässliche Sünde, denn nur Nerds bemerken das.
Ein weiteres Manko ist dem Umstand geschuldet, dass wir mit dem Autor ab Seite 450 durch immerhin drei verbleibende Jahrzehnte Pop hecheln müssen. Das wirkt zum Ende hin etwas ermüdend und Reetze macht im Schreibstil den Eindruck, dass er langsam fertig werden will. Das ist schade, denn die knappen Kapitel über Ina Deter, Gothic-Typen und Vinylfanatiker haben fast schon humoristische Qualitäten. Auch Kraftwerk kriegen ihr Fett weg, und Jan Reetze sollte Düsseldorf bei seiner nächsten Europareise besser aussparen.
So ist Der Sound Der Jahre nahezu ein Referenzwerk, fast ohne Schwächen. Das Buch hat zudem einen eigenen Groove. Reetze bezieht stets Stellung ohne zu belehren und erkennt klug Verbindungen, wo sie nur schwer auszumachen sind. Eine bessere Lektüre zum Thema dürfte in deutscher Sprache schwer zu finden sein. Hochamt. Strictly Recommended.